Realität ist nicht, was geschieht. Realität ist, was wir empfinden.
Billy (*1932), eigentlich Walter Fürst, Schweizer Aphoristiker
Gott in unserer eigenen Realität – ein zugegebenermaßen reißerischer Titel. Doch nichts umschreibt besser den Zustand der Vision, welche ich hier erläutern will. Im Gegensatz zu meinem Text „Ein ungetrübter Blick in die Zukunft der Virtual Reality“ stütze ich mich hier nicht auf Erfahrungen, sondern einzig und allein auf mögliche Zukunftsausblicke. Dieser Text gibt nicht etwa eine auch nur annähernd genaue Zukunftsvision wieder, sondern zeigt vielmehr ein Gedankenspiel basierend auf den Möglichkeiten unseres Geistes. Und um genau diesen geht es in dem Artikel.
Wir träumen
Stell dir eine Welt vor in welcher alles dem Diktat deiner Gedanken folgt – ein Ort an dem du alles sehen und alles tun kannst ohne irgendeine Konsequenz zu fürchten. Ein Ort der nur ganz allein dir gehört – eine fühlbare Version deines ureigenen, einzigartigen Geistes in der Wirklichkeit. Eine Realität in der ein Gedanke von dir alles tun kann. Ein Gott in der uns eigenen Welt. Ein Idee, die nicht weit hergeholt scheint – stellen doch unsere Träume eben jenen Ort dar. Zuweilen zumindest.
Normalerweise können wir einen Traum nur wenig bis gar nicht beeinflussen – wenn wir uns jedoch bewusst werden, dass wir Träumen sind wir in der Lage eben jenen Traum zu manipulieren und so einzusetzen wie wir es uns wünschen. Dabei ist die wichtigste Phase des Schlafes die sogenannte REM-Phase (REM= Rapid Eye Movement), in welcher sich die Augen wild hinter den geschlossenen Lidern bewegen.
Die Gehirnwellen schwingen ähnlich wie im Wachzustand in Theta-Kurven und sind wesentlich aktiver als in den vorangegangenen Schlafphasen. Tatsächlich zeigen PET-Aufnahmen unseres Gehirns während der REM-Phase des Schlafes weitgehend identische Aktivität der gleichen Hirnareale wie das Gehirn im wachen Zustand. Unser Geist ist also in der Lage Realitäten ohne direkte Feedback von außen zu erschaffen.
Wir realisieren
Was bedeutet Realität? Dafür gibt es unzählige Defnitionen. Der „Brockhaus“ definiert Realität als „Wirklichkeit im Sinne der Summe alles Vorhandenen, tatsächlich Gegebenen, Gegenständlichen im Unterschied zum lediglich Gedachten oder Vorgestellten“. Allerdings wird Realität auch “einzelnen Sachverhalten oder Ereigniszusammenhängen zugesprochen, die nicht mit Einzeldingen im Sinne von Gegenständen identifiziert werden können.“ (ebd.) Das „Wörterbuch Philosophie“ von Alois Halder definiert Realität als „eine der transzendentalen Seinsbestimmungen, die der Unterscheidung von Wirklichkeit (Aktualität) und Möglichkeit (Potentialität) voraus- oder über ihr liegt.“ (Halder, 2000: S. 351). Dann gibt es natürlich noch den Begriff der Wirklichkeit, welcher oftmals gleichbedeutend mit Realität gesetzt wird. Dabei sind die beiden Wörter mitnichten das Selbe. Das bedeutet, dass wir niemals und was immer wir auch tun werden begreifen können was die Realität bedeutet. Wir werden niemals in der Lage sein die Realität wahrzunehmen. Ebenso wenig wie wir gänzlich objektiv über etwas urteilen können. In unserer Psyche spielt stets die subjektive Wahrnehmung mit und man wird von zwei Personen stets eine unterschiedliche Wirklichkeit der Realität bekommen – ausgehend von dem eigenen Erleben, der Psyche und tausenden weiteren Faktoren. Das was wir wahrnehmen formt also das Bild, welches wir von der Welt haben. Um uns jedoch über diese Welt mit anderen austauschen zu können einigen wir uns auf eine hypothetische Realität. Wir sind uns alle einig, das Gras grün ist weil wir uns darauf festgelegt haben. Dabei werden wir niemals heraus finden ob das Grün, das ich sehe das gleiche ist, welches du wahrnimmst. Vielleicht ist das was ich als Grün sehe und deute, etwas das du Orange nennen würdest. Dies bedeutet also, dass eine Realität nur den Wert hat den wir ihr beimessen, da alles was wir wahrnehmen nichts anderes ist, als durch unser Gehirn rauschende Botenstoffe, ausgelöst durch äußere Reize. Wirklichkeit ist also das, was wir als Wirklich erleben und Realität das – worauf wir uns geeinigt haben, dass es allen als wirklich erscheint. Die Realität die wir nutzen ist also nichts mehr als eine hervorragende Arbeitshypothese.
Der Solipsismus geht sogar so weit zu behaupten, dass rein nichts außer dem eigenen Bewusstsein existiert. Wir wissen nicht, ob es so etwas wie eine Realität überhaupt gibt. Wir können sie als Mensch ebenso wenig beweisen, wie wir Gott beweisen könnten. Für den weiteren Verlauf des Textes gehen wir jedoch vom methodologischen Solipsismus aus, in welchem die Bedeutung von Begriffen wie „Realität“ und „Wahrnehmung“ einzig und allein von Bewusstseinszuständen des denkenden Subjekts abhängen.
Wir werden uns bewusst
Seit Jahrzehnten suchen Wissenschaftler nach dem neuronalen Korelaten des Bewusstseins. Dabei identifizierten sie verschiedene, voneinander abgegrenzte Gehirnareale, die an der bewussten Wahrnehmung beteiligt sind. Einige Studien legen dabei nahe, dass Bewusstsein eher auf synchronen Aktivitäten weit verteilter Neuronenbänder basiert. Es ist möglich eben jene Aktivitäten mithilfe von Geräten zu messen. Dies geschieht zum Beispiel durch Elektroden, welche von der Kopfhaut abgeleitete Spannungsschwankungen in unterschiedlichen Frequenzen darstellen können. Dies reicht von etwa einer bis hin zu annähernd 100 pro Sekunde (Hertz). Dabei deuten die unterschiedlichen Frequenzspektren wie Beta- oder Gammawellen verschiedene Wachheits- und Bewusstseinsgrade an. Alles was wir wahrnehmen, jeglicher Inhalt von außen – sehen, schmecken, riechen, hören, fühlen – wird mithilfe von elektrischen Signalen an das Gehirn weiter geleitet. Unser Gehirn erschafft Gefühle und Wahrnehmung auf Basis dieser Signale. Wir könnten dem Gehirn also mit der entsprechenden Technik, d.h. Einspeisung von elektrischen Impulsen an den entsprechenden Nerven, eine real erscheinende „Außenwelt“ vorspielen und ähnlich wie im Traum wäre es schwer zu unterscheiden was dabei Real ist und was nicht. Schon 1990 vermutete Francis Crick und Christof Koch, synchronisierte Schwingungen im 40-Hertzs-Bereich in Nervenzellverbänden würden das neuronale Korrelat von Bewusstsein darstellen (Gehirn und Geist Basiswissen Nr.2 – Zweite Auflage S.78).
Wir erschaffen eine eigene Realität
Dank der schnellen Entwicklung der Technik in nahezu allen Bereichen ist es durchaus denkbar, dass es in hundert oder zweihundert Jahren möglich ist die genaue Funktionsweise des Gehirns zu kennen. Bereits heute züchten Forscher „Mini-Gehirne“ im Labor um die Behandlung von unheilbaren Krankheiten zu erforschen, dieses winzig kleine Gewebe wird „cerebrales Organoid“ genannt. Auch eine schweizerische Forschergruppe baut in einem Supercomputer das sogenannte „Blue Brain” mit welchem per Simulation das Rätsel wie unser Denkorgan arbeitet, gelöst werden soll. Auf Basis dieses Wissens ist es durchaus vorstellbar, dass wir irgendwann einmal selbst in der Lage sein werden das Gehirn eines Menschen nicht nur auszulesen, sondern auch direkt zu beeinflussen, um diesem eine gänzlich neue Welt zu schenken. Computerprogramme, welche darauf eingestellt sind, sowohl Gehirnaktivitäten auszulesen als auch Impulse zu senden werden somit in der Lage sein neue Bewusstseinsebenen zu erschaffen, welche vom Nutzer selbst verändert werden können.
Wir werden Gott in unserer eigenen Realität
Wenn dieses Stadium erreicht ist wird es möglich sein den größten Teil unserer Zeit in eben jener Realität zu verbringen. Wir reden hier nicht von Abhängigkeiten oder Suchtverhalten – diese zweite Realität ist weder besser noch schlechter als jene, die wir jetzt kennen. Sie ist genauso real wie das Hier und Jetzt und genauso wichtig. Wir können uns mit Freunden an jedem Ort der Welt treffen. Wir könnten in der Lage sein unsere Gedanken selbst zu vernetzen und somit eine Singularität einzugehen. Wir könnten eine zweite Realität neben der unseren erschaffen, welche als Basis für die Realität 2.0 gelten würde. Nahrungsaufnahme könnte theoretisch sogar über Magensonden stattfinden. All diese Gedanken klingen nun dystopisch, es darf jedoch nicht vergessen werden, dass beide Realitäten gleich viel wert sind. Mehr noch, in der Realität 2.0 könnten wir unsere Zeit besser nutzen – jeder kennt es, wenn im Traum Stunden vergehen und wenn man erwacht nur wenige Minuten vorüber sind. Das Gehirn ist in der Lage das Gefühl für Raum und Zeit auszusetzen. So könnte die Arbeit von Jahrzehnten in wenigen Tagen erfüllt werden. Wir wären in der Lage in die Vergangenheit zu reisen, wir könnten gänzlich eins mit unserem Partner werden. Virtuelle Realitäten enden nicht bei Videospielen oder der Oculus Rift. Andere Realitäten werden gleichwertig werden und die Moralvorstellungen unserer Gesellschaft sprengen. Unser Geist wird von den Beschränkungen unserer körperlichen Hülle befreit und ist in der Lage die unmöglichsten Dinge zu erreichen. Gesellschaftliche Konventionen könnten außer Kraft gesetzt werden – Attraktivität würde keine Rolle mehr spielen, da das körperliche nicht mehr festgelegt ist. Menschen mit Behinderungen könnten ihr Handicap in der Kraft ihrer Gedanken loswerden. Spezielle Programme könnten es Autisten ermöglichen an einem gesellschaftlichen Leben einfacher teilzunehmen. Transgender könnten das Geschlecht annehmen, dass sie immer haben wollten. Menschen könnten ihre eigene, glückliche Realität erschaffen. Die Befreiung des Geistes, die Sprengung aller Ketten könnte zu der Erschaffung einer neuen, besseren Gesellschaft führen die nicht mehr versuchen muss die Realität der anderen zu ändern, da die eigene Wahrnemung bewusst gesteuert und eine passende Realität erschaffen werden kann.
Gäbe es Nachteile? Immense. Zweifel und Missbrauch dieser möglichen Technologie saßen mir beim Schreiben dieses Textes im Nacken, doch habe ich beschlossen sie nicht in diesen Artikel aufzunehmen. Dieser Text soll zum Nachdenken anregen über das was möglich ist und vielleicht noch kommen wird.
Meine Meinung:
Während der Recherche zu diesem Thema habe ich mich mit den Vor- und Nachteilen dieses Konzepts auseinander gesetzt. Natürlich fallen einem direkt nahe liegende Nachteile wie Abhängigkeit oder Verwahrlosung ein. Was wir dabei jedoch schnell vergessen ist, dass wir unserer Realität dann mehr Bedeutung zumessen. Keine Realität ist weniger Wert als die andere. Jeder Mensch durchläuft im Laufe seines Lebens abhängig von seinem Alter, seinem sozialen Umfeld und dergleichen mehrere Realitäten. Diese virtuellen Realitäten, in denen unser Geist selbst zum göttlichen Funken wird, der dank leistungsstarker Computern ganze Weltwunder erschaffen kann, liegt noch in einer fernen Zukunft. Eine Zukunft, die möglicherweise so nicht eintreten wird. Doch bereits jetzt können virtuelle Realitäten Menschen helfen. Das VR-Spiel “Snow World“, welches von Psychologen der University of Washington entwickelt wurde entführt Verbrennungsopfer mithilfe einer VR-Brille in eine Eiswelt um sie von den Schmerzen bei der Wundversorgung abzulenken. Laut einer Studie des US-Militärs wirkt dabei “Snow World” besser als Morphium. Wir müssen uns also von den starren Konzepten der Wertigkeit befreien und erkennen, dass sogar unsere eigene Realität nicht so unumstößlich ist, wie wir es gerne hätten.