Menschen haben Berührungsängste mit Virtual Reality. Sogar die Bundeskanzlerin zeigt sich irritiert, wenn sie eine 360-Grad Kamera erblickt. Warum Menschen Angst vor neuen Technologien haben, sich VR momentan noch „gefühllos“ anfühlt und wie Frauen die VR-Szene bereichern könnten.
Motion Sickness, zu realistische Gewalt, zu langweilige Spiele – die Liste an Kritikpunkten gegenüber VR ist lang. Und Bedenken gibt es viele. Manche Vorbehalte sind sogar so drastisch, dass Menschen äußern: „Ich habe Angst vor Virtual Reality.“ Das geht nicht nur Otto-normal-Verbrauchern so, sondern wohl auch Kanzlerin Merkel. Zumindest wenn es um 360 Grad Videos geht, die von ihr beim CDU-Parteitag gemacht wurden. Kein Wunder. Denn diese Ängste sind berechtigt. Virtual Reality hat immerhin die Macht, den menschlichen Geist stark zu beeinflussen. Sollte VR sich durchsetzen, werden Menschen zu willenlosen Zombies, versteckt hinter Datenbrillen. Und die Maschinen werden die Menschheit versklaven.
Und jetzt wird die Ironie wieder beiseitegelegt, denn kritische Bedenken sollte man wirklich ernst nehmen. Kritik ist wichtig, denn sie kann eventuelle Fehlentwicklungen aufzeigen und dazu dienen, Dinge zu verbessern. Aber man muss auch im Hinterkopf behalten, dass sich menschliche Angst und technologischer Fortschritt schon immer konträr gegenüberstanden. Als die erste kommerzielle Lokomotive „Adler“ im Jahr 1835 ihren Dienst aufnahm, wartete die Öffentlichkeit darauf, dass Passagiere bei der Jungfernfahrt explodieren würden. Denn man ging allgemein davon aus, dass der menschliche Körper eine Geschwindigkeit von 28 km/h anatomisch nicht aushalten könne. Als die Brüder Wright 1903 den ersten motorisierten Flug durchführten, interessierte das die Öffentlichkeit ziemlich wenig. Unnütz sei das Ganze und zu gefährlich – so die damalige landläufige Meinung. Es dauerte ganze fünf Jahre, bis man realisierte, dass die Menschheit einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht hatte. Und noch in den 1980er Jahren ging die renommierte New York Times davon aus, dass niemand so etwas Unbrauchbares wie einen Laptop-Computer nutzen würde.
Menschliche Skepsis bei neuen Technologien
Es liegt in der Natur des Menschen, ein Skeptiker zu sein. Denn als humanes Wesen ist man ständig mit seinen Ängsten konfrontiert. Ein Relikt aus Urzeiten, als der Mensch noch durch die Steppe zog und vor jeder neuen Pflanze oder einem unbekannten Tier auf der Hut sein musste. Denn schließlich konnte dieses neue „Ding“ einem problemlos das höhlenmenschliche Fell über die Ohren ziehen. Obwohl heute in der U-Bahn kein Säbelzahntiger mehr lauert und die größte Unsicherheit für den modernen Menschen darin besteht, ob die gekaufte Bodylotion auch wirklich vegan ist – wir Menschen sind immer noch auf Abwehrhaltung getrimmt. Vor allem wenn wir mit einem Medium zu tun haben, dass das eigene Gehirn austrickst. Mit etwas Derartigem sah sich auch noch keine der vorangegangenen Generationen konfrontiert. Und dabei waren nicht wenigen Menschen vor 20 Jahren noch nicht einmal Computer geheuer. Betrachtet man das menschliche Verhalten einmal näher, lässt sich dabei ein psychologisches Muster beobachten, wenn es um neue Einflüsse oder in diesem Fall, Technologien geht. Ein Mensch würde in verschiedenen Berührungsphasen mit einer neuen Technologie, Folgendes sagen:
1. Phase: „Davon habe ich noch nie gehört”
2. Phase: „Ich habe davon gehört, aber ich verstehe nichts davon.“
3. Phase: „Ich habe mich schon damit befasst, aber ich denke nicht, dass man so etwas braucht.”
4. Phase: „Für Leute die mehr Zeit / Geld haben als ich, ist das vielleicht was. Für mich nicht.“
5. Phase: „Ich nutze es, aber nicht ernsthaft. Es ist eher ein Spielzeug.“
6. Phase: „Es wird immer nützlicher für mich. Ab und zu kann ich es gut gebrauchen.”
7. Phase: „Ich benutze es ständig.”
8. Phase: „Ich kann mir ein Leben ohne gar nicht mehr vorstellen.”
9. Phase: „Wie konnten Menschen ohne es überhaupt leben!?”
Was Virtual Reality angeht, befinden wir uns momentan, gesamtgesellschaftlich betrachtet, zwischen Phase 2 und 5. Je nachdem wie sehr man sich mit VR beschäftigt hat. Wer Zweifel an diesem Phasenmodell hat, kann an sich selbst einmal überprüfen, wie er früher bezüglich Computern oder Smartphones eingestellt war. Vorausgesetzt natürlich, man gehört einer Generation an, die nicht damit aufgewachsen ist. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, welche zwei Altersgruppen völlig unvoreingenommen an das Thema „Virtual Reality“ herangehen: Männer über 25 Jahren und Kinder unter 15 Jahren. Alle anderen demografischen Gruppen runzeln erst einmal mit der Stirn oder schütteln den Kopf, wenn sie VR hören, anstatt sich vorbehaltslos eine Brille über zu ziehen.
Das alte Thema: Content muss her!
Dabei wird VR in naher Zukunft, die ultimative Plattform werden – und zwar für jedes Alter und jedes Geschlecht. Denn jedes von Menschen so geliebte Medium, lässt sich problemlos in VR importieren: von Filmen bis hin zu Live-Theater über Sportveranstaltungen und prinzipiell allem, was Interaktion, Audio und Visuelles beinhaltet. Sprich alles, was Content enthält. Denn Menschen lieben Content. Content vermittelt nämlich immer eine Botschaft, eingepackt in eine Story. Der Kern der jeweiligen Botschaft basiert wiederum ausschließlich auf Emotionalität. Emotionen sind eine tiefst menschliche Eigenschaft, nach deren Konsum jeder Mensch giert. Deswegen hat die Menschheit auch das Geschichtenerzählen erfunden. Die jeweilige Technologie war immer nur das jeweilige Medium dazu. Kinos, Fernseher, Computer oder Smartphones agieren nur als Vermittler – und doch verbindet jeder Mensch mindestens eine positive Erfahrung damit.
Warum sind aber so viele Menschen noch skeptisch gegenüber VR und sehen es nicht als tolles Medium? Einen Erklärungsversuch könnten wiederum zwei gegenwärtige Ist-Zustände geben. Wie neuer VR-Content mit Emotionen gefüllt werden soll, darüber sind sich viele noch nicht im Klaren. Auch wenn es bereits schon genug sehr berührende und emotional beeindruckende VR-Erlebnisse gibt – diese sind momentan nur einer eingefleischten Fan-Gruppe bekannt. Und damit steht auch das zweite Problem in einem kausalen Zusammenhang: Die Entwickler und Nutzer von VR. Denn die sind im Einzelfall mit großer Wahrscheinlichkeit männlich, über 20 – 45 Jahre alt, besitzen eine gute Bildung oder zumindest einen Intelligenzquotienten über dem Durchschnitt und eine hohe Technikaffinität. Eine Zielgruppe, die aufgeschlossen ist für Neues und sich gerne Fachwissen aneignet. Oder wie man im Neudeutschen sagen würde: Nerds.
Mehr Emotionen, Baby!
Klingt eigentlich ganz gut, oder? Allerdings gibt es leider auch einen Punkt, mit dem sich diese VR-Anwender-Gruppe weniger schmücken kann. Man ahnt es schon, es ist die Emotionalität. Das Positive ist sicherlich, dass man diese Aussage in den Raum stellen kann, ohne Angst haben zu müssen, dass ein Leser dieses Textes in Tränen ausbrechen wird. Wer allerdings bessere VR-Inhalte möchte, der muss beim Content anfangen. Und wer besseren Content produzieren möchte, der kommt um emotionale Inhalte nicht herum. Dafür muss eine neue Form des Storytellings gefunden werden (einen Ansatzpunkt in Form eines Storytelling-Guides präsentieren wir in einem folgenden Artikel). Und der Blick durch die virtuelle Brille muss weg von einer technologisierten Sichtweise, hin zu einer gefühlvolleren gehen.
Und hier würde der überwiegend männlichen Szene ein bisschen weiblicher Einfluss gut helfen. Nicht dass man pauschal sagen kann, dass Frauen Content-Themen besser anpacken würden. Im schlimmsten Fall würden wir möglicherweise auf einige gewalttätige VR-Spiele verzichten müssen. Aber zumindest könnte man darauf hoffen, dass Frauen das VR-Content-Problem differenzierter betrachten und umsetzen würden, was letztlich zu einer neuen Form des Storytellings führen würde und was wiederum die Herzen der Menschen berühren würde und vielleicht zur Folge hätte, dass VR DAS Medium überhaupt werden könnte. Vor allem aber würden Ängste abgebaut werden. Niemand müsste mehr Bedenken gegenüber vor VR haben. Nicht einmal die Kanzlerin.