Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird seit den fünfziger Jahren jährlich an eine Person verliehen „die in hervorragendem Maße vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat.“ Als Höhepunkt der weltweit größten, der Frankfurter Buchmesse, handelt es sich herbei um einen der wichtigsten Literaturpreise überhaupt. Die illustre Liste der Preisträger stellt so etwas wie das Who is Who der Literaturwelt der letzten gut sechzig Jahre dar und enthält Personen wie die großartige Astrid Lindgren, den ersten Präsidenten der BRD, Theodor Heuss, den genialen Philosophen Jürgen Habermas und Hermann Hesse – alles Personen die, niemand ausgiebig googlen muss.
1973 wurde der Preis erstmals einer Gruppe verliehen, der Club of Rome erhielt diesen Preis für die Grenzen des Wachstums. Hierbei handelt es sich um eine wirtschaftliche Zukunftsprognose, die damals wie heute viel, wenn auch nicht genug Aufsehen erregte. Die Kernaussage dieser Prognose ist, daß gravierende gesellschaftliche Veränderungen nötig sind. Ohne Veränderung beim weltweiten Bevölkerungszuwachs, der Umweltverschmutzung und bei der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der Erde wird eine absolute Wachstumsgrenze für Bevölkerung und Wirtschaft im Lauf unserer Jahrhunderts erreicht sein und das gesamte Wirtschaftssystem in Folge dessen kollabieren. Der Preisträger in diesem Jahr ist der Internetpionier Jaron Lanier. Sein von Kritikern gelobtes Buch Who owns the Future beinhaltet sowohl eine kritische Momentaufnahme der wirtschaftlichen und kreativen Machtverteilung im Interweb, wie auch dessen düstere Zukunftsprognose und erscheint vielleicht gerade noch rechtzeitig wie das fehlende Internetkapitel zu Grenzen des Wachstums.
Wer ist Jaron Lanier
Der Autor Jaron Lanier wurde 1960 als Sohn jüdischer Auswanderer in New York geboren, seine Mutter hatte im zweiten Weltkrieg ein deutsches Konzentrationslager überlebt, seinem Vater blieb das Schicksal der Internierung erspart. Kurz nach seiner Geburt zog die Familie ins mexikanische Mesilla, dort wuchs Jaron auf und besuchte im nahen Juarez eine Privatschule. Nachdem seine Mutter durch einen Verkehrsunfall ums Leben kam und das Elternhaus abgebrannt war, zog der junge Lanier mit seinem mittellosen Vater in die Wüste von New Mexico. Der begabte Junge erwirkte im Alter von 13 Jahren, daß er Vorlesungen der New Mexico State University besuchen durfte. Als er 15 war, verließ er die High School, besuchte aber weiterhin Mathematikvorlesungen an der Universität, was ihn rasch zum Schwerpunkt Informatik brachte. Die National Science Foundation finanzierte Lanier im Jahr 1978 ein Forschungsprojekt zum Thema des digitalen Lernens, parallel dazu besuchte der musikinteressierte Lanier in New York eine Kunsthochschule, entschloss sich jedoch nach New Mexico zurückzukehren um dort unter anderem als Hebamme zu arbeiten. Der Vater eines vom ihm zur Welt gebrachten Kindes schenkte ihm zum Dank ein Auto, mit dem er eine Freundin in Kalifornien besuchen wollte. Zufälligerweise handelte es sich hierbei um die Tochter eines Mitarbeiters der Fakultät für Physik der Caltech. Dank dieser Bekannschaft lernte Lanier unter anderem den berühmten Physiker Richard Feynman kennen und stellte Kontakte zur Computerindustrie her. Diese Kontakte halfen ihm dabei, rasch eine Anstellung bei Atari Inc. zu finden, für die er das innovative Spiel Moondust entwickelte. Nach der Aufteilung des Unternehmens verlor Lanier seine Anstellung, woraufhin er zusammen mit Thomas Zimmermann, einem Kollegen und Freund aus der Zeit bei Atari, die Firma VPL Research gründete, mit der die beiden VR-Pioniere die Kommerzialisierung von Virtual Reality-Technologie vorantreiben wollten. In dieser Zeit entwickelte VPL Research den Data Glove, einen Datenhandschuh, der Bewegungen der Hand auf einem Computer wiedergeben und dem Nutzer sogar rudimentäres haptisches Feedback vermitteln konnte. Die Verbreitung des Begriffs Virtual Reality durch Lanier fällt ebenfalls in diese Zeit. Obwohl das Unternehmen zwischenzeitlich florierte, musste 1990 Konkurs angemeldet werden, die Patente von VPL Research wurden später von Sun Microsystems gekauft und gehören mittlerweile dem Megakonzern Oracle. Nach dem Konkurs von VPL begann sich Lanier intensiver mit Musik zu beschäftigen, er komponierte und entwickelte sogar eigene Instrumente. Die Höhepunkt seiner musikalischen Karriere dürften Auftritte mit namhaften Musikern wie u. a. dem renommierten Jazz-Saxophonisten Ornette Coleman gewesen sein. In der Zeit danach arbeitete Lanier als Forscher für Projekte wie Internet2 oder als Berater diverser Technologieunternehmen. Zeitgleich begann er mit seiner Lehrtätigkeit an Universitäten und war Professor für Informatik an den Ivy League-Universitäten Dartmouth, Columbia und Yale.
Lanier wandelt sich zum Kritiker
Obwohl er weiterhin diverse Beratertätigkeiten im Informatiksektor wahrnahm, begann Lanier mit dem Beginn des neuen Jahrtausends zunehmend Kritik an der digitalen Wirtschaft, die er selbst mitgestaltet hatte, zu äußern. Lanier rückt bei seiner Kritik den Menschen in den Mittelpunkt und vertritt dabei den Standpunkt, dass die Technik sich dem Menschen und dessen Bedürfnissen anpassen muss, außerdem ermahnt der die Nutzer des Internets zu mehr Selbstreflektion. Aus seinem Essay Digital Maoism: The Hazards of the New Online Collectivism stammt das treffende Zitat: “If we start to believe that the Internet itself is an entity that has something to say, we’re devaluing those people [creating the content] and making ourselves into idiots.” In You Are Not A Gadget: A Manifesto kritisiert Lanier besonders das Web 2.0 und die das Web 2.0 dominierende Wisdom of the Crowd der Nutzer, die seiner Meinung nach eine retardierende Wirkung auf Fortschritt und Innovationen hat, darüberhinaus die Meinung des Kollektivs über das Individuum stellt. Die Herrschaft des Mobs und das Gängeln von Experten bei Wikipedia sind für Lanier die Paradebeispiele dieser Entwicklung. Bekannt ist Lanier unter anderem für den Ausspruch, daß seiner Meinung nach Amerika bereits seit der Verbreitung des Fernsehens in einer virtuellen Realität lebt.
Wem gehört die Zukunft nun?
Who owns the Future führt diese Kritik fort und setzt sie in einen konkreten wirtschaftlichen Kontext. Als zentralen Kritikpunkt bei der Entwicklung des Internets führt die extreme Konzentration von Wissen und Macht in von ihm genannten Sirenenservern an: Daten jedweder Art sind hierbei der neue Rohstoffe aus dem Wohlstand generiert wird. Diese extrem starken und gut vernetzten Server akquirieren enorme Datenmengen und verschaffen den Betreibern einen gewaltigen marktwirtschaftlichen Vorteil, so dass wirtschaftlicher Wohlstand lediglich bei den Betreibern der Sirenenserver oder in deren direkter Nähe entstehen kann. Der Vorgang, daß sich Macht und Wohlstand immer weiter um bereits bestehende Machtzentren zusammenziehen ist ein für den Kapitalismus typischer Prozess, das Internet und seine Sirenenserver beschreibt Lanier als eine Art Brandbeschleuniger für diesen Vorgang.
Lanier illustriert mit vielen eindrucksvollen Beispielen wie dieser Beschleuniger wirkt, sei es mit dem von den Nutzern weitgehend entkoppeltem Hochfrequenzhandel der großen Finanzinstitutionen oder weitaus spannender mit den Prozessen, die uns Nutzer involvieren. Wollte man früher Texte übersetzt haben, musste ein Übersetzer für diesen Arbeitsprozess bezahlt werden, heutzutage nutzen Googles Sirenenserver die unüberschaubare Zahl an Textdokumenten, um eine statistisch möglichst genaue Übersetzung zu liefern, dies scheinbar kostenlos. Die Arbeit hinter der Übersetzung von Google wird nicht von Google selbst erledigt, erfolgt vielmehr vollkommen automatisch durch den datensammelnden Server. Diejenigen, welche die nötigen Texte liefern, bleiben anonym, vor allem unbezahlt und dies kostet am Ende dem Übersetzer den Job.. Eine zunehmende Automatisierung macht den Menschen somit überflüssig und ist nicht nachhaltig, wir untergraben mit kostenloser Datenfreigabe im Zwischennetz unsere eigene wirtschaftliche Basis. Lanier legt hier den Finger in die Wunde der Internetnutzer, die begeistert kostenlose Inhalte im Netz nutzen, jedoch nicht den Horizont ihres Handelns überblicken können oder in den meisten Fällen schlicht nicht wollen. Lanier zählt in Who owns the Future unzählige weitere Beispiele auf, wie ähnliche Abläufe auch andere Berufszweige zunehmend aushöhlen und schlussendlich die Mittelschicht, Basis einer gesunden Volkswirtschaft, zerstören. Wenn es sich beim folgenden Beispiel vielleicht um ein leicht hinkendes handelt, sind die nackten Zahlen erdrückend: Lanier sieht in Instagram den geistigen Nachfolger des ehemaligen Fotoriesen Kodak, doch während Letzterer zu Hochzeiten weit über 100000 Menschen beschäftigte, arbeiten beim hippen Instagram gerade mal ein gutes Dutzend Angestellte.
Neue Ideen für die Zukunft
Bei all dieser düsteren Dystopie verteufelt Lanier nicht die Technologie an sich, sondern deren Nutzung, und hält aber gleichzeitig eine mögliche Lösung für dieses Dilemma parat: Die Nutzer der weltweiten Datenströme sollten seiner Meinung nach durch eine Vielzahl an Mikrotransaktionen bezahlt werden, beispielsweise für das Hochladen von Videos bei Wetube oder für Likes bei Hatebook. Gerade bezahlte Likes, etwa bei Reiseportalen, bergen allerdings wiederum das Risiko gezielter Manipulation. Laniers Konzept der Transformation des Internets in ein gleichberechtigeres Medium mag etwas von einer naiven Utopie haben, ist einerseits eine Abrechnung mit der Internet-Industrie, gleichzeitig aber auch ein mahnender Zeigefinger, der auf uns Nutzer zeigt: dieser will uns sagen, daß wir uns endlich mal an die eigene Nase fassen und mehr mit der Nutzungsweise des Mediums Internet auseinander setzen sollten. Gerade von Brancheninternen, aber auch von vielen Literaturkritikern wird Laniers Wandel vom linientreuen Mitglied der Silicon Valley-Kultur zu einem ihrer schärfsten Kritiker äußerst missmutig zur Kenntnis genommen. Die Tatsache, daß er immer noch eine Beraterfunktion bei Microsoft Research inne hat, wird ihm hier zur Last gelegt. Dieser Umstand wirkt zwar seltsam, ändert jedoch kaum etwas an der Stichhaltigkeit seiner Argumente. Vielmehr sind es gerade seine Wurzeln in dieser Industrie, die seine Kritik glaubhaft wirken lassen. Die Tatsache, daß er kein Gescheiterter ist, der im Nachhinein auf seine alten Arbeitgeber schimpft, sondern immer noch in der Branche gefragt ist, unterstreicht eher noch diese Glaubwürdigkeit.
Pflichtlektüre für Internetnutzer
Who owns the Future ist vielleicht nicht die abschließende Anleitung zur Erschaffung einer erstrebenswerten digitalen Zukunft, interessante Denkanstöße enthält es aber allemal. Besonders lesenswert ist das Buch immer dann, wenn Lanier in Nebensätzen kleine Anekdoten aus dem Silicon Valley zum Besten gibt, wie beispielsweise die Entstehungsgeschichte von MIDI. Lanier fügt Fakten und seine eigenen Prognosen zu einem besorgniserregenden Blick auf die Entwicklung der Internetkultur zusammen, dessen Lektüre jedem Internetnutzer wärmstens ans Herz gelegt werden sollte. Die Mechanismen, die Who owns the Future beschreibt, ähneln der ultimativ zum Scheitern verurteilten Marktdynamik aus Grenzen des Wachstum sehr, und ähnlich wie bei diesem Werk stellt sich beim Leser schnell das unangenehme Gefühl ein, daß der Punkt ohne Widerkehr bereits hinter uns liegt. Die Dringlichkeit seines Anliegens, hat er bei seiner Dankesrede auf der Frankfurter Buchmesse nochmals deutlich unterstrichen.
Quelle: Foto CC BY-SA 3.0
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