Im Kommentar Virtual Reality auf dem Weg in die Sackgasse hat mein Kollege Chris vor einem Monat die jetzige Situation im VR-Bereich analysiert. Seine These: Der Massenmarkt ist noch nicht erreicht, der Hype flaut ab. Vielleicht sind VR-Arcade-Hallen ein Weg: Anstatt die virtuelle Realität in die eigene Wohnung zu holen, werden die Menschen an kommerziellen Orten bespaßt.
Virtuelle Realität: Der Blick zurück
Chris steht mit seiner Skepsis nicht allein da, in letzter Zeit häufen sich die Stimmen. Wie aktuell auf CNet. Leute wollen keine Brillen tragen, geschweige denn Helme aufsetzen. Alles ist viel zu teuer, die Hardware noch unausgereift und alle warten auf die nächste Generation. Stimmt alles. Aber lassen wir uns einige Jahre zurückspringen.
Die erste Welle der Virtual Reality begann in den 90ern. Eigentlich war sie eher eine Vision, die mehrere Konzepte und Gedanken hervorbrachte. Es war die Vorstellung, komplett in eine künstliche Welt einzutauchen, die die Phantasie beflügelt. Kein Wunder also, dass Größen wie der LSD-Papst Thimothy Leary sich zu einem der Sprachrohre der Bewegung erhob. Zumindest theoretisch war das Ziel klar: Anstatt Drogen zu nehmen, sollte harte Technik ähnliche, traumartige Erfahrungen ermöglichen. Ganz legal und ohne Nebenwirkungen.
1992 erregte der Film Der Rasenmähermann Aufsehen, wohl vor allem wegen seiner Cybersex-Szene. Die Technik hinkte der Vision allerdings meilenweit hinterher und irgendwann verebbte die Welle, bezahlbare Hardware wie der Virtual Boy von Nintendo floppten und verschwanden schnell von der Bildfläche. Solche Bewegungen kennt man in der Industrie. Selbst die Videospiele mussten diesen Zyklus durchlaufen, als der Pionier Atari krachend scheiterte und unverkäufliche Spiele-Module in der Wüste vergrub (2014 sind manche wieder ausgebuddelt und verkauft worden). Nach dem Crash baute Nintendo Jahre später den Markt wieder auf.
Second Life: Geburt des Metaversums
Eine kleine Welle der virtuellen Realität schwappte Ende 2006 durch die Wohnzimmer: Second Life. Das Metaversum zog vor allem durch aufsehenerregende Berichte in den Medien viele neue Bewohner an. Man konnte (und kann noch) im virtuellen Kosmos echtes Geld ausgeben und verdienen, echte Menschen kennen lernen und schrägsten Fantasien ausleben. Unternehmen errichteten Zweigstellen in Second Life und investierten teilweise nicht unerheblich in eine Präsenz auf der Plattform. Der Hype hielt einige Zeit an – und war so plötzlich vorbei, wie er gekommen war. Auch wenn SL keine echte VR-Erfahrung ist, so war und ist das Metaversum doch ein Vorgeschmack auf das, was man eigentlich von VR erwartet.
Ich möchte hier den Begriff des Leidensdrucks ins Spiel bringen. Jede Technologie überlebt dann, wenn sie ein Grundbedürfnis besser bedient als eine andere Technik. In der Nische ist der Leidensdruck höher, weshalb sich manche Technologien nur in ihr ausbreiten können – und am Massenmarkt scheitern. Es ist ein komplexes Zusammenspiel. Erst eine massenhafte Verbreitung senkt die Kosten auf ein bezahlbares Niveau. Ein Henne-Ei-Problem. Wird VR es lösen können?
Auftritt Oculus, Valve und HTC
Am Anfang schien es so: Als Oculus 2012 die Kickstarter-Kampagne begann und damit den Grundstein für den jetzigen VR-Markt legte, war die Hardware überraschend preiswert. Und das Beste daran: VR funktionierte. Das Gefühl, mitten in der virtuellen Welt zu sein, sorgte für Euphorie. Einfache Erfahrungen wie die viel kopierte Achterbahnfahrt konnten viele Menschen begeistern. Dass die Grafik nicht gerade toll und etlichen Leuten schlecht wurde – egal. Danach begann ein zäher Prozess. Facebook kaufte Oculus, was viele Unterstützer der Kampagne als Verrat ansahen.
Aber es gab auch die Hoffnung: Mit dem Social-Media-Riesen im Rücken könnte alles etwas schneller gehen und besser werden. Vielleicht auch billiger. Danach begann das Warten, der Termin für die fertige Oculus Rift verschob sich mehrmals. Dann traten Valve und HTC auf den Plan und es ging um die Zeit: Oculus war gezwungen, die Rift endlich auf den Markt zu bringen, wenn man nicht der HTC Vive mit dem starken Partner Valve und seinem Steam Store das Feld überlassen wollte. Es zeigte sich, dass Valve und HTC bei der Technik schon ein paar Schritte weiter waren: Room Scale und Touch Controller, beides ging mit der Oculus Rift zuerst nicht.
VR: Pappbrillen wenig hilfreich
Und hier kommen wir zu einem vielleicht wesentlichen Knackpunkt: Bevor die beiden PC-Schwergewichte auf den Markt kamen, überschwemmten billige Papp-Brillen oder andere Smartphone-Halterungen den Markt. Für die meisten Konsumenten sind und waren diese der erste Einstieg in die heutige VR-Welt. Und das rächt sich teilweise. Selbst der besseren Samsung Gear VR gibt es Anwender, die das zwar mal ganz interessant fanden, bei denen die Galaxy-Halterung aber verstaubt. Etwas besser sieht es mit der PSVR aus, die sich schnell als Marktführer etablieren konnte. Sie kommt zwar technisch nicht an Rift und Vive heran, aber übertrifft bei weitem die Smartphone-Lösungen.
Nun stehen weitere Lösungen an, die vor allem die Handhabung vereinfachen: Für die morgen erscheinenden Windows Mixed Reality Headsets benötigt man für Room Scale VR keine externen Sensoren, die Erfassung des Raumes übernehmen Kameras direkt im Headset. Der nächste Schritt sind Stand-Alone-Brillen, bei denen das Hantieren mit Kabeln entfällt – und ein Rechner oder eine Konsole als Zuspieler. Anschalten, aufsetzen, loslegen. Damit will Facebook in den Mainstream und möchte seine Stand-alone VR-Brille Oculus Go für nur 200 US-Dollar anbieten. Zwar fehlt der Go das Room Scale Feature und ein 6DoF-Tracking der Controller, aber für etliche Anwendungen wird sie reichen und durch den Ease-of-use überzeugen. Vielleicht. Chris sieht das Projekt eher skeptisch.
Das ist aber nur ein Schritt von vielen. Mit Santa Cruz soll ebenfalls eine autarke Brille von Oculus erscheinen, die das bietet, was man bei der Go vermisst. Es kann noch etwas länger dauern, bis sie erscheint, bis dahin werden die Preise weiter sinken. Das ist auch bei den Windows Mixed Reality Brillen zu erwarten. Und dann stehen noch weitere PC-Headsets an, wie die 8K-VR-Brille von Pimax, die den Nerd-Markt bedienen. Das derzeitige Hardware-Problem löst sich also langsam: Die Sets werden besser, einfacher zu handhaben und die Preise sinken. Reicht das?
Content kommt von Können
VR wird sich weiter verbreiten und neue Zielgruppen ansprechen. Dafür benötigt die virtuelle Realität verschiedene Erfahrungen, die jeweils spezifisch Menschen abholen. Und hier sehe ich tatsächlich Chancen. Also Erfahrungen zu entwickeln, die nicht einfach nur bestehende oder offensichtliche Konzepte umsetzen, sondern völlig neue Wege gehen. Und die sind mehr und mehr dabei, auf den Markt zu kommen. Teilweise stehen kleine Entwickler dahinter, aber auch ein mehrjähriges Projekt wie die Manga-Umsetzung von Square Enix. Ich glaube nicht, dass die eine Killer-App fehlt – ein Pokemon Go hat auch AR nicht insgesamt zum Durchbruch verhelfen können – sondern ein funktionierendes Öko-System, das die Möglichkeiten der virtuellen Realität besser nutzt.
Ob es zu therapeutischen Zwecken ist, um beispielsweise Phobien oder Depressionen zu bekämpfen, zur sportlichen Betätigung, um zu entspannen. Für soziale Netzwerke und Metaversen, die faszinierender sind als alles, was man bisher erleben konnte. Virtuelle Erotik oder einfach nur Träume. Nicht umsonst nennt Google seine VR-Halterung Daydream. Der Durchbruch wird kommen. Vielleicht nur anders, als sich das manche vorgestellt haben.
(Bilder: Marcel)
Google refers to its VR platform as Daydream for a reason. There will be a breakthrough.
It’s so nice post!